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2014 01 07, überarbeitet 2014 06 06


Kleine Theorie des Schenkens
Short Theory of Giving and Accepting Presents
(In German language only)

0 Ein Geschenk ist eine Leistung oder ein Vorteil, für die keine andere Leistung erbracht, kein anderer Vorteil eingeräumt werden muß. Zumindest in unserem Kulturkreis ist man daran gewöhnt, dass Leistungen und Vorteile grundsätzlich nur wegen ihres Zusammenhangs mit anderen Leistungen oder Vorteilen erbracht und eingeräumt werden, und dass umgekehrt keine Leistung, kein Vorteil zu erwarten ist, für die nicht eine Gegenleistung erbracht werden muß. Die Devise lautet: "Nichts auf dieser Welt ist umsonst" und "niemandem wird etwas geschenkt". Vor diesem Hintergrund bildet das Geschenk in der Lebenswirklichkeit eine Ausnahme. In dieser Wirklichkeit bestehen jedoch zwischen Geschenken, Vorteilen und Nachteilen Zusammenhänge verschiedenster Art und Abstufung. Daran knüpfen sich Unklarheiten, gegensätzliche Bewertungen und Missverständnisse, denen im folgenden ein Stück weit nachgegangen werden soll.
1 Schenken bedeutet, einen materiellen oder immateriellen Vorteil oder Gegenstand oder eine ebensolche Leistung (das Geschenk) zuzuwenden, zu erbringen oder zur Verfügung zu stellen, ohne dass im Zusammenhang damit ein anderer Vorteil oder Gegenstand oder eine anderen Leistung an den Schenker oder einen Dritten erbracht werden muß. (Bei weitem zu eng stellt die Wikipedia-Definition allein auf die Übertragung von Eigentum ab.)

„Teilschenkungen“ oder „gemischte Schenkungen“ sind, abhängig von der Bewertung durch den Schenker, den Beschenkten oder Dritte, mit Vorteilen des Schenkers oder Gegenleistungen des Beschenkten verbunden, Nachteile für den Beschenkten schließen nicht aus, dass es sich bei der Ursache um ein Geschenksind handelt.
1.1 Zum Begriff des Schenkens gehört, dass der Schenker die Verfügungsmacht über das Geschenk besitzt und der Beschenkte das Geschenk behalten darf. Eine Leistung, die der Beschenkte herausgeben oder kompensieren muss, etwa weil die zugewendete Sache einem Dritten gehört, ist keine Schenkung. Da Verlobungs-"Geschenke" nach § 1301 BGB zurückgefordert werden können, werden sie erst mit der Eheschließung zu Geschenken. Der ungerechte Erwerb des Geschenks durch den Schenker oder (etwa mit Hilfe von Täuschung) durch den Beschenkten muss aber dem Begriff des Schenkens nicht in jedem Fall entgegenstehen.
1.2 Zum Begriff des Schenkens gehört die Freiwilligkeit der Leistung. Eine unwiderstehlich, etwa durch Gesetz erzwungene Leistung ist kein Geschenk, der Ausdruck "erzwungenes Geschenk" ein Widerspruch in sich, der aber Anlaß gibt, über manche Undeutlichkeit des umgangssprachlichen Schenkungsbegriffs nachzudenken. Die sei es auch widerwillig aber letztlich doch freiwillige Erfüllung eines nicht erzwingbaren, etwa religiösen, moralischen oder gesellschaftlichen Gebots (man denke an das Almosengebot oder das Gebot tätiger Nächstenliebe nach Markus 12, 33) oder einer nicht mit Zwang (1) verbundenen Bitte oder Forderung schließt dagegen eine Schenkung nicht aus.

Das Merkmal der Freiwilligkeit ist insofern fließend, als auch religiöse, ideologische oder moralische Gebote durch organisierte Gemeinschaften mit unwiderstehlichem Zwang verbunden sein können (man denke an das „Ergattern“ von Geschenken durch Bettelmönche in einer stark religiös geprägten Gesellschaft oder an ein hochgradig agressiv-lästiges Verhalten des ein Geschenk Fordernden oder die Einsammlung "freiwilliger" Beiträge in einer Diktatur). Ein ähnlicher Zwang kann auch unmittelbar (zum Beispiel "instinktiv") von der menschlichen Natur ausgehen. Leistungen zur Deckung des Unterhaltsbedarfs von Familienangehörigen können daher grundsätzlich nicht als Geschenke eingeordnet werden. Schließlich unterliegt Freiwilligkeit auch der Möglichkeit eines Irrtums oder einer Täuschung, etwa wenn ein Darlehen in der Absicht erbeten wird, es nicht zurückzuzahlen.

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Unter Zwang ist die Anwendung oder Androhung von geistiger oder physischer Gewalt zum Zweck der Herbeiführung eines Verhaltens zu verstehen, deren Wirkung der zu Zwingende sich nicht durch zumutbare Gegenwehr entziehen kann.
1.3 Zum Begriff des Schenkens gehört auch die - sei es auch widerwillige aber letztlich doch - freiwillige Annahme des Geschenks, gegebenenfalls auch in Form einer Mitwirkung (wie beispielsweise beim Geschenk einer musikalischen Darbietung, die der Beschenkte anhören muss, oder einer Reise des Beschenkten). Unwiderstehliche Aufdrängung einer Leistung oder Gabe ist kein Geschenk, selbst wenn sie benötigt wird. Wohl aber bleibt ein Geschenk ein Geschenk, auch wenn der Beschenkte einen nicht bestehenden Anspruch darauf geltend macht. Bitte oder Dank oder ihr Ausdruck gehören zwar nicht zum Begriff der Schenkung, bestätigen aber ihre Annahme und Anerkennung als Geschenk.
1.4 Unentgeltlichkeit wird nicht dadurch ausgesschlossen, dass das Geschenk in der Erwartung einer Leistung des Beschenken erbracht wird, sofern diese nicht erzwungen werden und das Geschenk nicht etwa wegen ihrer Verweigerung zurückgefordert werden kann. Deshalb bleibt die einer geschuldeten Leistung hinzugefügte, nicht geschuldete Draufgabe ein Geschenk, auch wenn sie mit der Erwartung eines gewissen Verhaltens des Beschenkten oder eines Dritten verbunden ist (man denke an Beigaben zu dem einem Arzt, Ratgeber oder Lehrer geschuldeten Honorars, an Parteispenden, an motivierende oder "pädagogische" Geschenke aber auch an Bestechungen). Wie die Erwartung einer Gegenleistung ändert auch die Deklaration als (nicht geschuldete) Belohnung für ein vorhergegangenes Verhalten nichts an der Natur als Geschenk.

Auch hier sind die Grenzen fließend, je nach dem Grad der Unwiderstehlichkeit eines gesellschaftlichen oder sonstigen Drucks, dem der Schenker oder Beschenkte ausgesetzt ist. die
1.5 In der Regel wird beim Begriffsgebrauch an zwischenmenschliche Schenkung gedacht. Der Ausdruck wird aber auch mit Bezug auf Gaben zwischen Natur oder Gott und Menschen verwendet (127. Psalm Vers 3, Jeremia 31 Vers 13, 14). Auch solche Geschenke bedürfen der Annahme und gegebenenfalls einer Mitwirkung des Beschenkten.
1.6 Sinn und Bedeutung erhält das Schenken durch seinen Zweck und seine Wirkung, insbesondere durch die zugrunde liegende Motivation des Schenkers oder Beschenkten. Zwecke, Motive und Wirkungen sind denkbar vielfältig. Die Leistung bleibt Geschenk, auch wenn sie unlauteren Interessen des Schenkers, des Beschenkten oder Dritter dient.

Der gelegentlich anzutreffenden Unterscheidung zwischen „gewöhnlicher“ und „Zweckschenkung“ liegen keine besonderen Erkenntnisse zugrunde, weil es die vollkommen zweckfreie Schenkung nicht gibt. Selbst wer sein Geld zum Fenster hinauswirft, tut das zum Spaß oder um etwas zu demonstrieren.
2 Der Sinn und die Bedeutung des Schenkens ist in erster Linie durch Interessen des Schenkers, des Beschenkten oder Dritter bestimmt, die das Schenken berührt.
2.1 Geschenke können dem Interesse des Beschenkten dienen, aber auch zuwiderlaufen.
2.1.1 Geschenke dienen in der Regel Interessen des Beschenkten, indem sie dessen mehr oder weniger dringenden Bedarf decken, etwa Not, Armut oder Ungleichheiten lindern, oder auch indem sie den Beschenkten zu einem in dessen Interesse liegenden Verhalten (zum Beispiel zu einem Studium, auch zum Beispiel zu einem Verhalten, dessen Nutzen der Beschenkte selbst nicht erkennt - man denke an das Geschenk eines pädagogisch wertvollen Spielzeugs), oder auch zu einer letztlich den Interessen des Beschenkten dienenden Freigiebigkeit des Beschenkten in die Lage setzen oder motivieren. Geschenke dienen Interessen des Beschenkten auch dann, wenn sich ihre Wirkung darauf beschränkt, ihm Freude zu bereiten.
2.1.2 Geschenke können aber auch dem Interesse des Beschenkten zuwiderlaufen, etwa indem sie den Beschenkten zu einem in Wirklichkeit nicht in seinem Interesse liegenden Verhalten veranlassen oder seine Meinungsfreiheit beeinträchtigen, zum Beispiel durch - möglicherweise subtile - Irreführung (man denke an das monopoly-Spiel) oder Täuschung. Klassisches Beispiel ist das „Danaer“-Geschenk der Griechen (der Danaer), jenes hohle Holzpferd, das im Inneren Krieger barg und, von den Trojanern angenommen und in ihre Burg geschleppt, dort zu ihrem Verhängnis wurde. Im schlimmsten Fall bewirkt das Geschenk eine unrechte oder unmoralische Tat des Beschenkten, es korrumpiert ihn; es wird - man bedenke den englischen Sprachgebrauch - zum „Gift“. Eine mit dem Geschenk verbundene nicht erzwingbare Obliegenheit einer Gegenleistung (Marcel Mauss - zit. nach Liessmann - hat 1925 die Theorie eines ungeschriebenen Gesetzes entwickelt, Gaben zu erwidern; man denke an den indianischen Gebrauch des "Polatsch" = engl. Potlatch = rituelle periodisch wiederkehrende Versammlung von Indianerstämmen zum Austausch von Geschenken) kann vom Beschenkten als lästig empfunden werden, sei es auch dass es sich nur um die Verpflichtung zur Dankbarkeit handelt.

Geschenke können dem Bewußtsein oder Wunsch der eigenen Leistungsfähigkeit und Unabhängigkeit des Beschenkten, insbesondere der ausschließlichen Selbstversorgung, und damit seinem Stolz zuwiderlaufen und bei ihm Schamgefühle auslösen, beispielsweise indem sie seine Armut und Abhängigkeit von „Almosen“ eines „Gönners“, von der „Gnade“ eines an Vermögen Überlegenen bestätigen. Das gilt besondes, sofern das Geschenk erbeten werden muss. Sie können dadurch das Selbstwertgefühl beeinträchtigen, das die eigene Leistung oder die Befolgung von Normen, die Erfüllung von Pflichten gerade ohne Hilfe anderer vermittelt. Dem entspricht eine Neigung, sich zu schämen, wenn man „bitte“ oder „danke“ sagen muss. Geschenke können auch den Beschenkten beschämen, wenn der Schenker damit ein ihm vom Beschenkten angetanes Übel "vergilt". Diese Interessenlage des zu Beschenkenden kann zur Ablehnung und zum Nichtzustandekommen des Geschenks, insbesondere auch in der Form einer nachträglichen, nicht geschuldeten Belohnung führen (man denke an die Zurückweisung des "Geschenks" von Zuneigung, die für den Fall des Bestehens eines lebensgefährlichen Abenteuers in Aussicht gestellt wird, in Schillers Gedicht „Der Handschuh“).

Schließlich ist denkbar, dass der Beschenkte, etwa aus moralischen oder ideologischen Motiven, mit Schenken an sich oder mit der Art des Erwerbs des Geschenks (insbesondere eines Geldgeschenks) durch den Schenker nicht einverstanden ist und sein ideologisches Gewissen durch die Annahme belastet würde.

Ideologisch bedingt ist die Ablehnung, wenn der zu Beschenkende in der Schenkung oder dem Erwerb des Geschenks eine Abweichung von einer von der Gesellschaft und/oder von ihm selbst für richtig gehaltenen Güterverteilung sieht. Er könnte etwa der Auffassung sein, dass niemand über Güter oder Leistungen frei verfügen oder sie aus welchen Gründen jedenfalls nicht verschenken darf oder daß zur Hergabe verpflichtet ist, wer etwas nicht selbst benötigt, dessen ein anderer bedarf. Dann kann der Beschenkte im Geschenk auch eine Verletzung durch Mißachtung seiner Überzeugung sehen.
2.2 Geschenke können dem Interesse des Schenkers oder eines Dritten dienen, etwa wenn sie eine Gegenleistung zum Beispiel in Gestalt eines bestimmten Verhaltens des Beschenkten oder des Dritten oder auch in Gestalt allgemeiner oder spezieller Wertschätzung des Schenkers durch den Beschenkten und/oder durch Dritte herbeiführen („gebet so wird Euch gegeben“) oder wenn sie ein Bedürfnis des Schenkers nach dem Bewusstsein der Erfüllung einer "nur" moralischen Pflicht oder nach allgemeiner Geltung oder Sympathie befriedigen sollen, aber auch einfach dadurch, dass es den Schenker glücklich macht, Freude zu bereiten. Geschenke können andererseits über die ihnen regelmäßig verbundene (gegebenenfalls ruinöse) Entreicherung des Schenkers hinaus dessen Interessen zuwiderlaufen, etwa indem er sich durch Konvention oder Not veranlaßt sieht, etwas widerwillig herzugeben.
2.3 Schließlich können Geschenke dem Interesse Dritter an einem bestimmten Verhalten oder an der Geltung oder Nicht-Geltung, Befriedigung oder Nicht-Befriedigung des Schenkers oder Beschenkten oder der Freude der Dritten an der Zuwendung dienen. Insoweit gilt das zu 2.1 und 2.2 Gesagte entsprechend.
3 Geben und Annehmen von Geschenken ist auch eine Form der Kommunikation und des sozialen Zusammenlebens überhaupt.
3.1 Geschenke können Ausdruck und Zeichen der Wertschätzung des Beschenkten durch den Schenker, für Zuneigung, Freundschaft oder Liebe des Schenkers zum Beschenkten sein, etwa auch in Form der Vermittlung einer gemeinsamen Freude (Finanzierung eines Fests oder Liebesmahls, von Tanz und Musik als gemeinschaftlich-gegenseitige Darbietung ohne Entgelt). Wertschätzung und Zuneigung werden durch Entgegennahme und durch Dank bestätigt und erwidert. Schenkung und Dank können durch Wiederholung zum (politischen oder gesellschaftlichen) Ritual werden (zum Beispiel zur Bekräftigung von Friedensschlüssen).

Dabei können Geschenke neben den bereits erwähnten Beeinträchtigungen der Beteiligten allerdings auch Neid und Eifersucht Dritter auslösen.
3.2 Einen charakteristischen Sinn des Schenkens hat der Soziologe und Philosoph Georg Simmel in einer „Expansion des Ichs“ gesehen (zit. nach Liessmann).
3.2.1 Es leuchtet ein, dass altruistische Motivation und Freude am Schenken eine innere Identifikation des Schenkers mit dem Beschenkten bedeutet und dass insbesondere persönliche Dienstleistungen, wenn sie einen persönlichen Bezug auf den Schenker und/oder Beschenkten aufweisen (zum Beispiel eine speziell für den Beschenkten nützliche oder den Schenker identifizierende Handarbeit oder ein Bildnis oder Gedicht) eine solche Expansion darstellt. Da bekanntlich Lieben schöner ist als geliebt zu werden und Geben seliger als Nehmen, leuchtet die Betrachtung als Selbstexpansion auch mit Bezug auf das (Liebes-)Geschenk ein.

Die Schenkung kann auch zur Selbst-Identifikation des Schenkers in der Gesellschaft als großzügig oder überlegen dienen und dadurch geradezu „Schenkwettbewerbe“ (Liessmann) auslösen. Auch können Beteiligte der Auffassung sein, dass materielle Geschenke gerade nicht geeignet sind, Liebe und Zuneigung überzeugend oder so überzeugend wie persönliche Leistungen zum Ausdruck zu bringen, weil sie nichts oder wenig an "Persönlichkeit transferieren“ (und daher gerade keine Expansion des Ichs darstellen).

Auch eine Expansion des Ichs des Beschenkten kommt in Betracht, wenn in der Schenkung ein Mittel der Integration des Beschenkten in die Gesellschaft oder eine Auszeichnung in der Gesellschaft gesehen wird.
3.2.2 Eine Expansion des Ichs findet auch statt, wo das Geschenk der Verwirklichung von Gemeinschaftszielen oder -Erlebnissen dient. Beispiele sind neben Veranstaltungen gegenseitiger „Zuwendung“ im gemeinsamen Tanz oder Musizieren etwa Spenden für einen gemeinschaftlichen Zweck oder Zuwendungen an eine Stiftung zur Finanzierung der Ausbildung begabter Bedürftiger oder eines Forschungsvorhabens. Hierher gehört auch die Übertragung eines sonst einem bestimmten Zweck gewidmeten Vermögens, beispielsweise eines Unternehmens, von den bisherigen Eigentümern an deren Nachfolger oder Dritte. Hier liegt nahe, dass das Vermögen auch der Finanzierung derjenigen Ausbildung dient, deren die Nachfolger zu Verfolgung des bestimmten Zwecks benötigen. Obwohl hier eine sei es auch „nur“ moralische Obliegenheit des Leistungsempfängers begründet wird, handelt es sich um eine Schenkung, weil Empfänger oder Nutznießer der Leistung zu Gegenleistungen nicht verpflichtet sind.
3.2.3 Die Erläuterung des Schenkens als eine Erweiterung des Ichs des Schenkers dürfte eine Art Vereinigung dieses Ichs und des Ichs des Beschenkten einschließen. Das kann zugleich als Ersetzung oder Beschränkung des für die Entfaltung des Ichs verfügbaren Bereichs verstanden werden und den Entschluß zum Angebot und zur Annahme eines Geschenks sowohl fördern als auch hemmen.
3.3 In der besonderen Form des durch einen spürbaren persönlichen Verzicht des Schenkers gekennzeichneten Opfers ist das Geschenk Ausdruck besonderer Verehrung und/oder Unterwerfung.
4 Die Vielfalt der möglichen Sinngebungen des Schenkens wird überlagert durch ebenso vielfältig mögliche Beeinträchtigungen der Freiheit des Schenkers oder Beschenkten durch eine sei es auch nur moralische oder gesellschaftliche, gegebenenfalls auch nur vorgestellte Verpflichtung.
5.1 Das läßt sich am Beispiel des eigennützigen Werbegeschenks (auch in seiner Form einer Draufgabe) erläutern. Es soll den Beschenkten veranlassen, angebotene Gegenstände - etwa der geschenkten Art - entgeltlich zu erwerben. Dadurch soll den Interessen des Anbieters gedient werden.

Werbegeschenke haben im besten Fall keine weitergehende Bedeutung als diejenige, dass der Entschluß, den Gegenstand zu untersuchen oder auszuprobierenzu und schließlich zu erwerben, nicht der mehr oder weniger zufälligen Begegnung des zu Beschenkenden mit dem konkreten Warenangebot überlassen sondern beschleunigt (vorgezogen) wird. Da bereits die Auswahlmöglichkeit an sich im Interesse von Jedermann liegt, ist dagegen nichts zu erinnern.

Zwar ist schon mit dem Werbegeschenk ein mittelbarer Anreiz zum Erwerb verbunden. Diesem Anreiz für den Fall, dass der Erwerb nicht im wohlverstandenen Interesse des Beschenkten liegt, zu widerstehen - was nichteinmal Zurückweisung oder Entsorgung des Geschenks voraussetzt, ist Sache der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Beschenkten und erfordert eine geringe Anstrengung, die jedermann im Interesse allgemeiner Kommunikationsfreiheit zuzumuten ist.
5.2 Ein anderes Beispiel für Freiheitsbeeinträchtigungen durch Schenkung bietet die Forderung: Wir reduzieren das Schenken zu Weihnachten, um uns der Indienstnahme eines religiösen Festes durch den Kapitalismus zu entziehen, indem wir uns dem "Konsumterror" massenhafter Angebote verweigern. Hier wird allerdings die Ursache eines negativ zu beurteilenden weil übermäßigen oder undifferenzierten Massenkonsums verwechselt oder verschleiert: Sie liegt nicht im Angebot von Leistungen sondern in der massenhaften Entscheidung über seine Annahme. Wer die Freiheit der Massen verneint, Angebote auszuschlagen, verneint die Mündigkeit der Bevölkerung und damit des Einzelnen. Soweit in einem Rechtsstaat ein "Terror" zulässig ist, der diese Freiheit beschränken könnte, liegt er im Einzelnen selbst, nämlich in der Last oder in dem Druck, den der Einzelne empfindet, wenn er sich zu dem (anstrengenden, mühseligen) Verzicht auf Konsum durch Ablehnung von Angeboten zwingen soll.
5 Schenken und Beschenktwerden kann nach alledem eine komplexe und komplizierte Angelegenheit sein, weil Geschenke zugleich ganz verschiedenen, sogar entgegengesetzten Empfindungen und Interessen dienen und von den Beteiligten (Schenker, Beschenkten und Dritten) gedanklich mit unterstellten oder wirklichen, unterschiedlichen und auch gegensätzlichen Motiven verbunden werden können. Eine eindimensionale Sinngebung des Schenkens und ein Geschenk ohne Berührung adverser Elemente (die auch vom Maß der menschlichen Schwächen des Gebers oder Beschenkten abhängt) ist selten.
5.1 Aus den vielfältigen Motiven und Wirkungen des Schenkens und der Annahme von Geschenken ergeben sich auch eine Menge von Anlässen, Geschenke zu unterlassen oder abzulehnen. Unnütze oder interessenwidrige Geschenke sind fehl am Platze. Geschenke sind der Ablehnung sicher, wenn sie lediglich aus Gründen der Konvention oder um Nacheile zu vermeiden - zumal dennoch mit Dank - entgegengenommen werden sollen. Vielfach unterbleibt ein Geschenk aber auch aus Furcht vor Mißverständnissen oder unerwünschten Folgen. Nicht selten wird schließlich das Schenken aus üblichem Anlaß auch durch einen Beschluß Beteiligter verpönt: „Wir schenken uns nichts“. Hier liegt die Motivation etwa bei vollständiger Bedarfsdeckung in der Bequemlichkeit, nicht ein dennoch sinnvolles Geschenk erdenken und gestalten zu müssen. Der Beschluß „wir schenken uns nichts“ kann allerdings auch bedeuten: wir wollen nur etwas geben, wenn wir dafür eine Gegenleistung bekommen, oder: wir wollen nicht, dass uns eine Leistung erlassen wird oder wir selbst sie uns erlassen, die wir „eigentlich“ schuldig sind.
5.2 Mit der Komplexität und Kompliziertheit der Sinngebung sind Ungewißheiten mit Bezug auf das Vorliegen bestimmter Wirkungen, Interessen oder Motive und damit Risiken verbunden. Von der Gewährung oder Annahme von Geschenken wird manchmal wegen solcher Risiken Abstand genommen. Zum sinnvollen Schenken gehört aber im Gegensatz zur normierten (zwangsweisen) Wegnahme und Verteilung (die Verschaffung der) Kenntnis und (der Erwerb von) Verständnis des Schenkers und Beschenkten der Faktoren, die den Sinn des Geschenks ausmachen, und die verantwortliche, abwägende Entscheidung über den Gebrauch und eine etwaige Beeinträchtigung von Freiheit und über die Eingehung von Risiken. Wegen der Unsicherheiten, die mit jenen Faktoren immer und unvermeidlich verbunden sind, ist erfolgreiches Schenken deshalb auch immer auf Vertrauen zwischen Schenker und Beschenktem angewiesen.
5.3 Denkbare Gründe für die Ablehnung eines Geschenks lassen sich nach alledem wie folgt zusammenfassen:

a) Allgemeine Ablehnung freier Verfügungsmacht des Einzelnen über Güter und Leistungen oder Obligation des Anbieters zu anderweitiger (z.b. altruistischer) Verwendung des Geschenks.

b) Ideal vollständiger Selbstversorgung, erforderlichenfalls durch Tausch (Stolz).

c) Mangelnde Qualität oder mangelnder Nutzen des Geschenks.

d) Zweifel an der Verfügungsmacht des Schenkers und/oder am ehrlichen Erwerb des angebotenen Geschenks durch den Schenker.

e) Furcht vor Beeinträchtigung des Rufs, zur Selbstversorgung fähig zu sein (Stolz).

f) Furcht vor Abhängigkeit, insbesondere vor einer Obligation zu (Gegen-)Leistungen.

g) Eigenschaften oder vorangegangenes Verhalten des Schenkers.

Die Gründe zu a) und b) sind als Gegenstände irrationaler Ideologie rationaler Diskussion nicht zugänglich. Ob die Gründe zu c) oder d) durchgreifen, ist objektiv feststellbar. Die Überwindung der Gründe zu e) und f) ist vom Selbstvertrauen des zu Beschenkenden abhängig, das im Normalfall zur Überwindung ausreichen sollte. Die Stichhaltigkeit der teilweis objektiv verifizierbaren (nachprüfbaren) Gründe zu d) und f) hängt auch von der Vertrauenswürdigkeit des Schenkers ab. Die Einschätzung zu g) ist bis zu einem gewissen Grade objektiv bewertbar, im übrigen muß sie dem Ermessen des zu Beschenkenden überlassen werden. Sämtliche Gründe sind in einer abwägenden Entscheidung durch Gründe überwindbar, die nach dem - etwa durch moralische oder zweckgerichtete Gesichtspunkte geleiteten - Ermessen des zu Beschenkenden für die Annahme sprechen.
6 Der Zugang zu einer Antwort auf die Frage, ob Schenken gut und richtig oder abzulehnen ist, wird durch die Erkenntnis vermittelt, dass das „soziale“ Zusammenleben der Menschen sich vom bloßen (quasi tierischen) Nebeneinanderleben durch Kommunikation, Teilung des Lebens durch Geben und Annehmen oder Zurückweisung oder Wegnahme von (Lebens-) Gütern und Leistungen, insbesondere von Arbeits- und Hilfeleistungen, sowie von Zu- und Abneigung und Wertschätzung unterscheidet.
6.1 Dabei ist neben dem Tausch das (freiwillige) Geschenk die wichtigste Form dieser „Teilung“ in einer freien Gesellschaft, die zwangsweise Verteilung grundsätzlich ablehnt. In diesem Sinne zutreffend bezeichnet Liessmann das Geschenk als „Materialisierung“ des „sozialen Prozesses“, und auch dort, wo das Ritual eine Gegengabe einfordert, als „Verfahren zur Konstitution und Sicherung eng definierter sozialer Beziehungen“. Dieser Prozess wird durch möglichst weitgehende Wahrung der (zum Menschenwesen gehörenden) Freiheit des Einzelnen durch möglichst weitgehende Einschränkung der Wegnahme im Wege einer Monopolisierung des Wegnahmerechts beim Staat zivilisiert.

Die Verwirklichung des (kommunistischen) Ideals des gemeinsamen Eigentums und Besitzes aller Güter und Leistungen setzt angesichts der unter Menschen tatsächlich immer anhzutreffenden Unzuverlässigkeit den Einsatz von Zwang voraus. Zur Verwirklichung des Ideals „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ bedarf es einer mit Zwangsgewalt ausgestatteten Instanz, die über Fähigkeiten und Bedürfnisse entscheidet.
6.2 Verzicht auf Schenken bedeutet dagegen eine Verarmung des sozialen Prozesses durch Verlust einer Form des Zusammenlebens und der Kommunikation des Freudebereitens, der Zuneingung, Freundschaft und Liebe, und einer freiheitlichen Form eines Ausgleichs von Besitz und Bedarf. In der sozialen Bedeutung des Gebens und Nehmens liegt der eigentliche Grund dafür, dass „bitte“ und „danke“ zu den ersten (nicht nur Aussagen sondern) Gedanken gehören, die wir unseren Kindern als Grundinhalt sozialer Erziehung nahebringen. (Ich kenne einen Fall, in dem die Ablehnung eines Partners, jemals zum anderen „danke“ oder „bitte“ zu sagen, zum Scheitern der Ehe beigetragen hat; der Grund liegt in der menschlichem Wesen entsprechenden Natur der Einehe als Beziehung des unentgeltlichen frei gewährten und angenommenen Gebens und Nehmens.)

Ein Verzicht auf Schenken bedeutet insbesondere Verzicht auf eine besonders wirksame Form freier Verfolgung der Ziele und Zwecke freier außerstaatlicher (gesellschaftlicher) Vereinigungen, wie sie Koalitionen Gleichgesinnter oder (auch mehrere Generationen umfassender) Familienverbände ebenso wie Stiftungen zur Verfolgung von Gemeinschaftszwecken darstellen.

Es bedeutet schließlich eine Zurücksetzung der Chancen sozialen Zusammenlebens, wenn ein Geschenk unterlassen oder abgelehnt wird, um die inneren Mühen und Beschwerlichkeiten der wie oben erwähnt erforderlichen Bewertung und Abwägung seiner Vorzüge, Nachteile, Lasten und Risiken für Gesellschaft, Schenker, Beschenkte oder Dritte zu vermeiden. Es bedeutet auch eine Aufgabe der Freiheit des Schenkers und des Beschenkten, zwar die staatliche (letztlich gewaltsame) Wegnahme von Gütern oder Heranziehung zu Leistungen ohne Gegenleistung zum Zweck ihrer unentgeltlichen Zuwendung an andere (Beispiel: Kindergeld) zu billigen oder zu fordern, private Schenkungen dagegen abzulehnen, womöglich auch um die Last der erwähnten Abwägung und Entscheidung zu vermeiden.


Literatur

Liessmann, Konrad Paul, (Prof. für Philosophie an der Universität Wien), Der grosse Potlatsch, NZZ, 27. Dezember 2013, S. 21.



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